Mit kalbfreundlicher Milch zu mehr Tierwohl

Gertraud Magritzer vor ihrer Milchviehherde

Milchkühe geben Milch sobald sie ein Kalb auf die Welt gebracht haben. Die Kälber werden direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt um die Milchmenge zu erhöhen. Das ist gängige Praxis, egal ob biologisch oder konventionell erzeugte Milchprodukte. Doch gibt es auch eine Alternative, bei der Kälber und Landwirte naturnah zusammenarbeiten können?

Für diese Frage haben wir den Weinkirnhof besucht, der mit 16 Kühen in biologischer Weidehaltung eine muttergebundene Kälberaufzucht praktiziert.

Saftig grüne Hügel soweit das Auge reicht, dazwischen üppige Getreidefelder und über uns ein strahlend blauer Himmel. Der Wienerwald überrascht in seiner Schönheit, obwohl er kaum eine halbe Autostunde von der Großstadt entfernt ist. Wir sind schon tiefenentspannt, als wir den Weinkirnhof über eine abenteuerliche Hangstraße ansteuern. 

Gertraud Magritzer empfängt uns barfuß mit einem farbenfrohen Kleid und wir fühlen uns sofort willkommen auf diesem friedlichen Fleckchen Erde. Ein paar freilaufende Hühner und Enten beäugen uns neugierig, bevor sie ihrem Tagwerk weiter nachgehen. 

Gertraud ist eine wahre Agrarpionierin, denn sie und ungefähr 15 andere Milchhöfe trennen die Kälber nicht direkt nach der Geburt von der Mutterkuh, sondern lassen diese in der Herde und bei der Mutter trinken. Und dennoch kann die Mutterkuh weiter gemolken werden und das bei kaum geringerer Milchleistung, so die Erfahrungen von Gertraud. Sie hat den Weinkirnhof 2013 auf die muttergebundene Kälberaufzucht umgestellt und ist sehr zufrieden mit der Entwicklung.

Brauchen wir ein neues Siegel für kalbfreundliche Milch?

Ein Kalb im Stall
Ein Kalb vom Weinkirnhof © Gertraud Magritzer

Eine spannende Lösung, denn viele Konsumentinnen und Konsumenten sind abgeschreckt von der Vorstellung, dass ein Kalb gleich nach der Geburt von seiner Mutter getrennt wird und würden theoretisch für eine Milch mit dem Siegel “Muttergebundene Kälberaufzucht” einen höheren Preis zahlen.

Wozu die frühe Trennung von Kalb und Mutter?

Ein Kalb und Mutterkühe
Gut behütet in den ersten Lebensmonaten © Gertraud Magritzer

Ein Argument für eine frühe Trennung ist die weniger starke Bindung zwischen Kalb und Mutter. Jedoch entwickeln sich Kälber, die mit anderen Jungtieren abseits der Herde aufwachsen anders, sie lernen nicht von den älteren Artgenossen wie das Leben in einer Herde funktioniert und die Ersatzmilch aus dem Nuckeleimer ist weniger bekömmlich für die noch jungen Kälbermägen.

“Einfach ist es trotzdem nicht, drei Tage schreien die Kühe manchmal nach ihren Kälbern wenn wir Abstillen, das muss man aushalten. Sowas hat man bei einer Trennung direkt nach der Geburt nicht.” erzählt uns Gertraud. Trotzdem ist sie von den Vorteilen überzeugt, die Kälber wachsen gesünder auf, haben weniger Durchfall weil sie die Muttermilch besser verdauen können und sich ihr Immunsystem besser entwickelt. Im vierten Lebensmonat kommen die Kälber zu einem Partnerbetrieb. 2 weibliche Kälber pro Jahr werden nach der Winterpause in der sie von der Herde separiert wurden wieder in  die Herde eingegliedert.

Der Klimawandel setzt den Milchkühen zu

Den Kühen ist im Sommer zu heiß
Lieber im Schatten: vor 16 Uhr will die Herde nicht auf die Weide

Wir gehen mit Gertraud auf die Weide, die sie Kurzrasenweide nennt. Das bedeutet, dass die Höhe der Gräser fünf bis acht Zentimeter nicht überschreiten sollte, damit die Weidefläche optimal von den Milchkühen abgegrast werden kann. “Mir ist es wichtig, dass die Weide schön aussieht und das heißt auch, mehrere Stunden pro Woche Beikraut wie Disteln und Ampfer zu rupfen”, erklärt uns Gertraud. Die Kuhherde ist gerade eifrig daran, sich über die Weide herzumachen und beachtet uns kaum, zwei Kälber liegen gemütlich im Schatten. “Die Kühe könnten im Sommer eigentlich den ganzen Tag selbstständig raus auf die Weide gehen, aber es ist ihnen oft viel zu heiß und vor 16 Uhr stehen sie lieber im schattigen Stall und genießen den Luftzug”. 

Der Klimawandel wird zunehmend auch ein Problem für die Milchviehbetriebe. Kühe fühlen sich bei einer Temperatur von 4° bis 15° Celsius wohl, deutlich unter unserem durchschnittlichen Sommer mit über 20° Celsius im Mittelwert. Daher forschen Institute, wie das Leibniz-Institut für Nutztierbiologie bereits an möglichen Lösungen, wie der Zucht von besonders hitzeresistenten Rindern mit Nutztierrassen aus Brasilien.

Stirbt mit den Melkrobotern die Bindung zum Tier?

Die Melkpumpe anlegen erfordert Übung
Mit Respekt vor den großen Tieren üben wir das Melken

Gertraud hat uns eingeladen, beim Melken mitzumachen und gegen Abend wird die Herde in den Stall zum Melkstand geholt. Eine Kalbin ist die erste am Gatter und schaut schon neugierig um die Ecke, obwohl sie noch kein Kalb bekommen hat und damit ein Trockensteher in der Fachsprache ist. Dann geht das Gatter auf und schnell sind die sechs Melkplätze besetzt, insgesamt sind es 13 Milchkühe, die morgens und abends gemolken werden. “Für mich ist das immer eine Art Meditation, besonders als ich noch hauptberuflich im Büro gearbeitet habe, war das melken am Feierabend pures abschalten vom Tag”, meint Gertraud während sie die Vakuumpumpen der Melkvorrichtung blitzschnell an die Euter der Kühe hängt. Und ein wenig kann ich es nachvollziehen, das rhythmische Pumpgeräusch der Milchanlage, die ruhig wiederkäuenden Kühe und die Routine der Handgriffe haben etwas erdendes. Hin und wieder erhalte ich aber auch eine Portion Jauche, weil ich noch zu langsam bin, die Geräusche richtig zu deuten und auf die Seite zu springen. 

Jetzt bin ich an der Reihe, die Milchpumpe anzulegen und ein wenig Respekt habe ich schon vor den großen Tieren. Gertrauds Kühe wirken allgemein sehr entspannt aber sanfte 700 kg sind trotzdem eine andere Hausnummer. Und so fühle ich auch ein bisschen Ehrfurcht gegenüber meinem täglichen Milchkonsum, wie ich die Milch in einem dünnen Strahl in die Pumpanlage fließen sehe. So wie Gertraud und viele Landwirte in Österreich von Hand arbeiten, wird es wahrscheinlich nicht ewig weitergehen, denn die Zeit der Melkroboter ist längst angebrochen. Aber ist eine fortschreitende Entfremdung gegenüber dem Tier wirklich der richtige Weg?

Bio heißt nicht automatisch Kuh auf grüner Weide

“Übrigens ist der Weidegang für Milchkühe in biologischen Betrieben erst seit 2019 gesetzlich geregelt”, erzählt mir Gertraud noch und ich bin überrascht, bisher habe ich das immer als selbstverständlich empfunden, dass meine Biomilch von Kühen auf der Weide kommt. In der österreichischen Bio-Verordnung sind 180 Weidetage festgeschrieben, am Weinkirnhof geht die Weidesaison sogar von März bis November.

Am Ende unseres Besuchs füllt uns Gertraud noch eine Glasflasche mit frischer Rohmilch aus dem Milchtank ab, der regelmäßig von einem Tanklaster einer großen Molkerei in Österreich abgeholt wird. Einen Service, den es ab 60.000 Litern Milch pro Jahr gibt, darunter rentiert es sich nicht für die Molkerei. Gertraud liegt knapp über der Grenze, aber möchte ihre Herde so behalten, wie sie ist und sich nicht in das Radl der ständigen Produktionssteigerung begeben. 

Wer hat noch die Chance, echte Rohmilch zu erleben?

Wir schütteln Rohmilch im Glas zur Butter
Aus Rohmilch und 15 Minuten Bizepstraining wird Butter

Und ich trinke nun die erste Rohmilch meines Lebens, die Frischmilch aus dem Supermarkt ist pasteurisiert und der Rahm wurde ganz oder teilweise abgenommen. Ich durfte sogar mit Gertraud ausprobieren, die Rohmilch zu schütteln, bis sie zu fester Butter wird. Bei 15 Minuten angestrengtem Schütteln war es dann so weit, auch wenn ich zwischendurch ins Zweifeln gekommen bin und mich gefragt habe, wieso das nicht längst eine beliebte Fitnessübung ist. Schließlich stockt die Milch doch noch und ich habe die erste selbst geschüttelte Butter meines Lebens auf dem Jausenbrot, ein Tag voller Pioniererlebnisse. 

Wienerwald im Sonnenuntergang
Abendstimmung im Wienerwald

Nachdenklich von den vielen Eindrücken und mit viel Landluft in der Nase fahren wir im roten Abendlicht durch den Wienerwald wieder heim und die Landschaft ist ein wahres Bilderbuch. Auf einem kleinen Hügel stehen drei sehr historisch aussehende Trecker und die Landwirte genießen zusammen ihr Feierabendbier inmitten der fast reifen Getreidefelder und schauen sich den Sonnenuntergang an. Fast fühle ich mich etwas schuldig bei so viel Naturverbundenheit, denn wann denke ich schon an diese Welt der Landwirte, wenn ich im Supermarkt stehe?

Was kann ich als Konsumentin tun?

  • Leider gibt es Gertrauds kalbfreundliche Milch noch nicht im Direktvertrieb. Ein Unternehmen hat zwar Interesse gezeigt aber die Abholung von den weit verstreuten Betrieben ist ein Problem. Hier ist Raum für Ideen!
  • Eine Art Gütesiegel für muttergebundene Kälberaufzucht gibt es noch nicht, aber wenn es genug Konsumentinnen und Konsumenten verlangen, kann sich das ändern. Fragt nach bei den Molkereien und Großhändlern!
  • Lebensmittel haben immer eine Geschichte, was die Unmengen an verschwendeter und weggeworfener Milch pro Jahr noch trauriger macht. Ein wöchentlicher Einkaufszettel und bewusster Umgang mit Lebensmittel beugt vor.
  • Überzeugt euch selbst, woher eure Lebensmittel kommen, besucht Landwirtschaftliche Betriebe, viele bieten Hofführungen an, auch Gertraud könnt ihr besuchen und beim melken helfen und eine frische Flasche kalbfreundliche Milch mitnehmen.

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